Wo ist mein Haus?

Wenn etablierte soziokulturelle Zentren ihre Räumlichkeiten verlassen, dann wandern sie oft in Brachen zur kulturellen Zwischennutzung. Der bis dato ungenutzte Ort birgt räumliche und gedankliche Freiheiten, die immer mehr Kultureinrichtungen anziehen – dauerhaft oder auch temporär.

Soziokulturelle Arbeit hat in leer stehenden Fabrikhallen und Industriebrachen begonnen. Aus Mangel an Räumen nahmen die Kulturarbeiter mittels Konzerten, Theateraufführungen und Ausstellungen ehemalige Bürokomplexe und Orte der industriellen Fertigung für ihre Projekte in Besitz – manche blieben und bauten die Räume als Kulturstandort aus, manche nutzten die Möglichkeiten des temporären Experimentierfeldes und zogen anschließend weiter. Es entwickelten sich die großen heute zum Teil institutionell geförderten soziokulturellen Zentren und daneben Initiativen und Projektgruppen frei von Förderungen aus öffentlicher Hand.

Wenn heute Kulturanbieter in ehemalige Industrieanlagen gehen, dann seltener aus Mangel an Räumen, diese sind in Mitteldeutschland im Übermaß vorhanden. Vielmehr paaren sich hier finanzielle Not und die Suche nach neuen, ungenutzten Potentialen. Das Unterhalten und Bewirtschaften fester Kulturorte wird stets preisintensiver, während durch Abwanderung, demografischen Wandel und Verschiebung der wirtschaftlichen Schwerpunkte immer mehr Relikte der Industriegesellschaft in einen Dornröschenschlaf verfallen. In Thüringen sind nicht goldschwere Kulturprinzen diejenigen, die die zu meist backsteinernen Prinzessinnen wach küssen, sondern beispielsweise Kulturarbeiter der soziokulturellen Zentren E-Werk in Weimar, Kunsthaus Erfurt und Alte Papierfabrik Greiz.

Das E-Werk in Weimar ist Vereinsdach verschiedener Künstler, Kulturschaffender und Institutionen aus Weimar und Jena, die sich zusammengeschlossen haben, um das Gelände der ehemaligen Elektrizitätswerke Weimar als vielfältige Kulturinsel zu etablieren.
Im Verbund mit dem Deutschen Nationaltheater, der Ateliergemeinschaft E-Werk und der Klassik-Stiftung Weimarer bemüht sich der Verein um eine junge, internationale und spannungsreiche Ausrichtung der Kulturangebote in Weimar. In den ehemaligen Fertigungs- und Lagerhallen wird die Luft durch internationale Ausstellungsprojekte, multimediale Theaterinszenierungen und interkulturelle Symposien elektrisiert.
Der Verein e-werk e. V. bewirtschaftet heute das Industriegelände und macht so erst die kulturelle Nutzung möglich. Neben Wohn- und Projekträumen hat das Lichthaus-Kino im morbiden Ambiente Platz genommen, das Deutsche Nationaltheater eine zweite Spielstätte im Kesselsaal geschaffen und das internationale Filmfestival Backup ein zu Hause gefunden.

Im Ehemaligen Innenministerium in Erfurt hingegen wurde die Regentschaft des Landes nach langer Pause durch die zeitgenössische Kunst übernommen. Den Anfang machte ZK – Zeitgenössische Kunst // Erfurt-Berlin in Zusammenarbeit mit dem Kunsthaus Erfurt mit der Kunstlawine – ein temporäres und wachsendes Ausstellungsprojekt mit ungewissem Ausgang.
Was als Experiment mit 10 Künstlern aus Erfurt, Weimar und Umgebung begann, wuchs innerhalb von vier Wochen auf mehr als 40 Künstler in 10 Räumen an. Wie ein gedeihender Organismus wuchs die Anzahl der Künstler, aber auch die Ausstellung und die Brache entwickelten sich schmetterlingsgleich. Der künstlerische Prozess wurde hier Teil der Ausstellungskonzeption, wurde Sinnbild für Kreativität, Netzwerkbildung und Entwicklung. Gleichzeitig wurde ein hervorragendes künstlerisches Soziogramm der Freien Kunst- und Kulturszene Thüringens gezeigt. Einmal die Woche konnten Interessierte sich ihr eigenes Bild von dem komplexen Prozess der Kunstlawine machen. Bei Musik von befreundeten Bands und DJ-Teams und geführten Rundgängen durch die Ausstellung und (noch) nicht genutzten Räume des wiederbelebten Ortes kamen Macher und Nutzer zusammen und die Grenze zwischen Produzent und Rezipient verwischte.
Dass brachliegende Immobilien beispielsweise durch kulturelle Nutzung wieder lebendig werden – dafür ist die Kunstlawine ein Paradebeispiel. Der Besitzer stellt sie seither bis zur Sanierung und wirtschaftlichen Nutzung Freien Kunst- und Kulturarbeitern zur Verfügung. So werden zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Einerseits wird die Immobilie in Stand genutzt, belebt und profiliert, andererseits haben Kulturarbeiter die Möglichkeit neue Formate auszutesten, zu probieren, zu erforschen. Es folgte ein Streetart-Ausstellung- ebenfalls ein Projekt des Kunsthaus Erfurt, der Christopher Street Day, weitere Ausstellungsprojekte und das erste Atelier ist auch bereits bezogen… to be continued.

Ganz anders in der ehemalige Papierfabrik in Greiz. Sie wurde durch eine Hand voll junger Königskinder aus dem kulturell ausgedünnten Greiz entdeckt und zum Kulturort auserkoren.
Vor mehr als 6 Jahren fanden sie sich zusammen, um dem alten Gemäuer mit Ausstellungen, Konzerten und Workshops zu neuer Blüte zu verhelfen.
Seit dem werkeln sie jeden Samstag in der Pappe – wie sie ihren Ort liebevoll nennen – und setzen mit den eigenen Händen und aus eigener Kraft die Immobilie wieder in Stand, um Stück für Stück die Möglichkeiten für freie Kulturarbeit auch im ländlichen Raum und vor allem für Jugendliche zu erweitern. Es sollen jungen Künstlern Raum zum Malen, Zeichnen, Bauen, Musizieren, Fotografieren, Romane Schreiben oder einfach nur nett nebeneinander sitzen geschaffen und die Kulturproduktion angeregt werden. Bei Konzerten und Ausstellungsprojekten werden die Früchte der Arbeit dem Publikum zugänglich gemacht. Überhaupt ist den Kulturarbeitern die Beziehung zu den Einwohnern der Stadt sehr wichtig. Jeder Greizer kennt jemanden, der früher in der Papierfabrik gearbeitet und gelebt hat und so soll es auch wieder werden: ein richtiger Ort zum Arbeiten und Leben!

E-Werk www.ewerkweimar.de
backup_festival www.backup-festival.de
Kunsthaus Erfurt www.kunsthaus-erfurt.de
Alte Papierfabrik Greiz www.altepapierfabrik-greiz.de

Maxi Kretzschmar in Informationsdienst Soziokultur 3/2009, Nr. 77, Aus den Ländern

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