Urbane Kunst, Steckdosengesichter und neue alte Räume…

Es gibt Kunst im öffentlichen Raum, Kunst am Bau und Freie Kunst.

Die Vorreiter heutiger Kulturpolitiker haben im Zuge der Modernisierung seit der Aufklärung diese Unterscheidung eingeführt. Die Freie Kunst entwickelt sich seither prächtig in Museen, Galerien und Kunsträumen in Stadt und Land. Eine Avantgarde löst die andere ab, der Pluralismus in den Kunstströmungen entsteht. Inhaltliche und institutionelle Verzweigungen und Vernetzungen werden in Deutschland wie in keinem anderen europäischen Land gefördert. Schließlich hat sich Deutschland seit Goethe und Schiller zu einer Nation entwickelt, die sich über ihre Kunst- und Kulturgüter definiert. Kunst hat gesellschaftlichen Wert, vor allem Kunst im öffentlichen Raum. Bauherren öffentlicher Gebäude müssen einen bestimmten Prozentsatz der Baukosten in Kunst am Bau investieren, Kunst im öffentlichen Raum hingegen wird durch kommunale Ausschreibungen befördert. Die künstlerische Freiheit allerdings ist weit entfernt. Künstlerische Eigeninitiative ist nicht vorgesehen und Privatbesitzer investieren Unsummen in die Befreiung ihres Besitzes von “Graffitischmierereien”. So weit der Ist-Zustand. (Was ist, wenn es keine Grenzen gäbe zwischen den Kunstorten, wie es bis zur Aufklärung der Fall war?)

Urbane Kunst blendet diese Grenzen aus. Die Künstler tragen die Freie Kunst in den öffentlichen Raum, sie malen und ritzen Figuren, wie es die Ureinwohner Europas in Höhlen taten. Sie kleben Plakate wie die alten Römer, befreien Schablonen von ihren dekorativen, später politischen Inhalten und installieren Objekte wie der Kleingärtner Gartenzwerge. Sie ergänzen aktiv die Arbeit von Stadtplanern und Architekten, Kommunalpolitikern und Quartiersmanagern, Sozialarbeitern und Kulturbeauftragten, indem sie die Stadt zur Galerie erklären.

Urban Art gibt Stadtteilen ein Gesicht, das freundlich lächelnd zum Gespräch einlädt. Im Gegensatz zu Graffiti, das als popkulturelles Phänomen seit den 1980er Jahren die westliche Welt mit großen und kleinen Schriftzügen (Styles und Tags) und Figuren (Characters) überzieht, deren Bedeutung sich nur Eingeschworenen erschließt, als Sachbeschädigung bewertet gesellschaftlich geächtet wird, spricht urbane Kunst (Urban Art) mit ihrer meist einfachen Bildsprache den lokalen Kommunikationscode und greift soziale und architektonische Strukturen der lokalen Wirklichkeit auf. Sie bedient sich der Mittel der Werbeindustrie, bevor sie im Prozess einer offiziellen Kunst-Ausschreibung an Kraft verliert. Urban Art ist Freie Kunst.

In Westsachsen gibt es – wie in vielen ostdeutschen Städten, in denen ehemals eine produzierende Industrie existiert hat – sehr viele brachliegende Industriebetriebe und Fabriken, an denen niemand mehr Interesse hat und welche so einem langsamen Verfall ausgesetzt sind. Diese Brachen sind der ideale Ausgangspunkt für eine besondere Form der Urban Art: hier treffen bauliche Zerfallsprozesse gepaart mit ungeplanten Renaturalisierungsprozessen und regional-geschichtliche Bedeutung auf kreative Neuschöpfungen. Marode Produktionsräume werden neu gedeutet, gestaltet und zumindest temporär wiederbelebt. Relikte vergangener Alltäglichkeiten werden integriert, sich aber nicht von diesen abhängig gemacht. Die freie Kunst trifft sich – losgelöst von Galerie- und Kunstmarktmechanismen – mit der Bevölkerung, in dem sie deren ehemalige Arbeits- und auch Lebensmittelpunkte in etwas Lebendiges verwandelt.

Dennoch kann man kaum in Worte kleiden, was da alljährlich passiert: Alte Balken werden zu Pferden, Fenster zu Bilderrahmen, Steckdosen zu Gesichtern, kurz: Die Überbleibsel der Industriegesellschaft werden zu urbanen Kunstobjekten. Die IBUg stellt in einer Region, die den demografischen und gesellschaftlichen Wandel seit der Wende radikal erleben musste (vom wirtschaftsstarken “Manchester des Ostens” zu einer Abwanderungsregion), einen wichtigen Identifikationswert dar. Schließlich sind es die Brachen, in denen ein Gros der Bevölkerung einen erheblichen Teil ihres Arbeitslebens verbracht hat und die von Künstlern nun das letzte, schönste Kleid auf den Leib geschneidert bekommen. Es ist doch ein erhebender Moment, wenn Enkel und Großeltern den Eingang passieren und gemeinsam durch eine Kunst-Brache gehen, die so vielschichtige Geschichten erzählt, dass Alter keine Rolle mehr spielt. War es früher die Industrie, die den Ton angab, ist es heute einmal jährlich die Kunst, die eine ganze Stadt in helle Aufregung versetzt.

Zone56, Künstler und Teammitglied der IBUg, glaubt: „…dass es eine Stimmung in den Gemäuern gibt. Da vor vielen Jahren in solchen Gebäuden Hochkonjunktur herrschte, bekommt man das als Künstler mit oder kann es zumindest erahnen, wenn man eine Weile dort am Werk ist.

Die Architektur, der Verfall, das Ambiente gibt den Anreiz, etwas zu machen, das diese Einflüsse widerspiegelt. Wenn man das erste Mal die Hallen betritt, denkt man, eigentlich könnte alles so bleiben, wie es ist. Es ist schon ‚Kunst’. Ich hoffe, die eingeladenen Künstler – egal aus welchem Land – werden das spüren und in ihre Kunst mit einfließen lassen.“ Und sie tun es, Jahr für Jahr!

Projekte wie die IBUg sind ohne Gelder aus der Wirtschaft und breite Unterstützung eines gut funktionierenden Netzwerks nicht möglich. Vertrauen ist dabei das höchste Gut. Immerhin laden die Organisatoren internationale Künstler in eine Brache ein, die nicht selten zum Abriss freigegeben ist – Fluch und Segen zugleich. 
Segen, weil in diesem Niemandsland aus Unkraut und funktionslosen Mauern freie Kunstproduktionen, die mit Raum und Geschichte des Geländes spielen, möglich sind. Alle Kunstwerke können bleiben, kein Nagel muss entfernt werden, keine Wand muss stehen bleiben. Die Kunst nimmt sich den Raum, den sie braucht und die Künstler können ihrem kreativen Geist folgen. Die Themen sind frei aber nicht egal. Es liegt ein Spirit in der Luft, der die Künstler zusammenhält und bei organisiertem Chaos das Gesamtkunstwerk IBUg ermöglicht.

Fluch, weil jahrelange Arbeit notwendig ist, um das Vertrauen herzustellen. Immerhin kaufte die Stadt Meerane jahrelang die Brachlandschaften, entwickelte mit den Organisatoren gemeinsam ein temporäres Nutzungskonzept und unterstützte, wo sie kann. Und dennoch ist die Realisierung des Projektes alljährlich eine Hängepartie. Abgelegen vom Zentrum öffentlichen Interesses müssen Förderer und Sponsoren überzeugt werden. Ohne ein über Jahre gewachsenes Netzwerk aus Privatpersonen, regionalen und überregionalen Unternehmen und Kulturträgern, den Stadtverwaltungen und einem eingeschworenen Team wäre die IBUg nicht nur aus finanzieller Sicht undenkbar.

Umso schöner ist daher die Entwicklung. Einst ein reiner Szenetreff, wurde das Projekt inzwischen in eine nichtöffentliche Kreativphase mit Künstlern aus dem In- und Ausland sowie eine Präsentationsphase unterteilt. Dieses Konzept hat sich bewährt und wird ständig weiterentwickelt. 2012 kamen fast 5.000 Besucher in den ehemaligen Glauchauer Schlachthof.

Spontane Konzerte mit den Besuchern, Performances, Führungen und Malaktionen fanden statt. Ein Rahmenprogramm mit Kino, IBUg-inspirierter Mode, Vorträgen und einer Diskussionsrunde zu Kunst im öffentlichen Raum und Umnutzungskonzepten, einer IBUg-Kneipe, in der Einheimische und Zugereiste an einem Tisch sitzen, und einem Urban Art Markt begleiten die Ausstellung. Ausstellung? Eine Ausstellung wird nicht wirklich geboten, vielmehr ein Gesamtkunstwerk, das nie fertig ist und – auch während des Festivals – zum Gestalten einlädt. IBUg your life and get together!

Autorin: Maxi Kretzschmar, Kunst- und Kulturmanagerin für Broschüre IBUg 2013
www.ibug-art.de

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