Zukunftskonferenz Mitteldeutschland 2007

Wirtschaftsfaktor Kreativität – Standort Mitteldeutschland im internationalen Wettbewerb

Workshop VI – Szene
Junge, kreative Szene-Menschen haben besondere Erwartungen an eine Stadt. Wie sehen diese aus und wie können sie artikuliert werden? Kann das weite Spektrum der Kreativen überhaupt organisiert werden? Welche Erfahrungen gibt es schon in Deutschland? Wie können die kreativen Milieus in Mitteldeutschland gestärkt werden und welchen Nutzen hätte dieses?

Dr. phil. Bastian Lange, Leibniz-Institut für Länderkunde Leipzig

Innovationszellen für die Zukunft?

Lange stellt im Folgenden die Soziologie der Szene dar.
Er definiert Szene wie folgt: Die Szene folgt einer inneren Logik, die bestimmte Dinge befördern, andere ausschließen kann. Sie begründet sich durch Interaktion und Kommunikation. Sie ist aber keine Gemeinschaft im eigentlichen Sinne, sondern vielmehr eine lose Ansammlung ähnlich denkender Menschen ohne klare Grenzen. Die Szene wird durch Flows bestimmt, deren Undefinierbarkeit das Interesse an der Szene weckt. Der Freiheitsgrad innerhalb der Szene und die Autonomiebestrebungen innerhalb und in Abgrenzungen zu anderen Szenen sind sehr hoch. Die Szene stellt spezifische Deutungsmuster von Welt bereit, deren man sich annimmt oder es lässt. Mitglied einer Szene wird man durch interaktive Präsenz, daraus ergeben sich auch Kreativökonomien und Bestrebungen Städte und Wirtschaftsstandorte attraktiv zu machen. Die Szene verfügt über ein spezifisches Wissen und Kontexte, in denen Ideen und Prototypen getestet werden können. Die Szene ist also eine notwendige Bedingung für Innovationen, da sie ein Überprüfungssektor darstellt. Der Einzelne hat gegenüber der Szene keine Verpflichtungen und die Szene hat sie auch nicht gegenüber dem Einzelnen.

Die Eigenlogik der Szene beschreibt Lange so: Die Mitglieder einer Szene haben einen hohen Anspruch an Autonomie und Selbstbestimmung. Es bilden sich Organisationseliten heraus, wobei aber die letzte Entscheidung beim Szenegänger liegt. Ob er bestimmte Entwicklungen annimmt und unterstützt, ist ihm überlassen und entscheidet so schlussendlich über die Gesamtentwicklung der Szene. Die Szene ist in hohem Maße unbestimmt, wobei sie aber in erster Linie Alternativen zum bereits Bekannten bietet.

Das Problem der Initiierung, Beförderung und Etablierung von Szene
Laut Lange ist die Initiierung von Szene durch außen (z. B. durch die Wirtschaft) möglich, Beförderung hingegen hält er für ausgeschlossen. Er gesteht äußeren Faktoren eine stabilisierende Kraft zwar zu, die allerdings nicht ausreicht, um einen Trend zu etablieren. Lange spricht in diesem Zusammenhang von der „Idee des Paradoxons“

Prof. Dr. Hardy Geyer, Hochschule Merseburg (FH), Lehrstuhl Kultur- und Sozialmanagement, Prorektor für Studium und Lehre

Kreative Szene und kreative Stadt

Geyer umreißt das Thema mit vier Wörtern: Menschen, Stadt, Kultur und Stadtkultur und macht im Folgenden den Zusammenhang deutlich.
Grundlegend versteht Geyer unter creative industries nach Florida: Werbung, Multimedia, Software, Mode und Design. Die Träger der creatvie industries wird als kreative Klasse bezeichnet und von Geyer in Hochkreative, Kreative Professionals, Bohemians und Menschen mit innovativen Ideen differenziert. Zu den Hochkreativen zählt er z. B. Ingenieure, zu den Professionals Manager und zu Bohemians Künstler. Diese drei Untergruppen sind nicht per se kreativ oder innovativ, sondern benötigen kreativitätsfördernde Rahmenbedingungen.
Geyer bemüht das Sinusmodell, eine Art Matrix zur Beschreibung von Stadtentwicklung und Marketing, um die Rahmenbedingungen, also die Zusammenhänge zwischen der sozialen Lage und der Grundorientierung darzustellen. Diese Zusammenhänge sind maßgebliche Faktoren für die Produktentwicklung.

Tradition Moderne Hochmoderne

Der Fokus der Produktentwickler liegt nicht mehr im oberen linken Drittel dieser Matrix, sondern vielmehr im oberen rechten Drittel, also bei der hochmodernen Oberschicht und Mittelschicht. Allerdings ist das Angebot der Soziokultur und der privaten Kulturwirtschaft für die sehr moderne Oberschicht qualitativ und quantitativ mangelhaft ausgeprägt. Zu den sehr modernen Menschen zählt Geyer die Experimentalisten in der Mittelschicht und die modernen Performer in der Oberschicht. Betrachtet man die Wünsche und Selbstreflexionen der Hochmodernen, dann wird deutlich, dass Autonomie, Spaß und Abwechslung die wichtigsten Bedürfnisse sind. Bei der Betrachtung der Freizeitaktivitäten wird deutlich, dass die klassische Teilung in Arbeit und Freizeit langsam zu bröckeln beginnt. Clubs, Kneipen und Bars werden gemeinsam mit Chef und Kollegen nicht nur zum Mittagsessen besucht, sondern auch vor und nach der Arbeit. Die Persönlichkeitseigenschaften der sehr Modernen lassen sich mit den Begriffen individuell, unkonventionell, hochgradig mobil, aktiv, urban, spontan und lustvoll fassen.
Die hochmoderne Mittel- und Oberschicht lebt also bevorzugt in Städten. Städte, die von ihnen mit den Attributen cool, trendy, sexy beschrieben werden, sind zum Beispiel Amsterdam, Dublin, Barcelona oder Kopenhagen. Diese Städte werden als Bunt beschrieben. Sie lassen verschiedenste Situationen zu, Fahrräder sind auffällig häufig das bevorzugte Fortbewegungsmittel und sie liegen alle am Wasser (Gibt es da einen Zusammenhang zu kreativitätsförderlichen Bedingungen?).

Stadt
Geyer definiert Stadt, wie folgt: Eine Stadt ist eine große Ortschaft, die durch Tausch und Markt charakterisiert ist. Sie ist ein Organismus, der sich ausgleichen muss. Die Stadtbewohner bilden ein mehr oder weniger dichtes Netzwerk. Die Stadt ist auch die Manifestation bestimmter Verhaltensweisen, was historisch belegt werden kann. Damals kamen Siedler aus dem Wald und zogen in die Urstädte, wo sie den Genüssen frönen konnten, ökonomischen Handeln kennen und schätzen lernten und die Kommunikation außerhalb der Familie einen neuen Stellenwert erhielt. Ihre Anziehungskraft beschreibt Geyer mit der Maslowschen Bedürfnispyramide. Sie enthält 5 Bedürfnisse: körperliche Grundbedürfnisse, Bedürfnis nach Sicherheit, Bedürfnis nach sozialen Beziehungen, Bedürfnis nach sozialer Anerkennung und das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung. Geyer macht deutlich, dass zwar beim Bedürfnis nach sozialen Beziehungen der Freundeskreis noch völlig ausreichend ist, aber spätestens beim Streben nach sozialer Anerkennung und nach Selbstverwirklichung das anregende und heterogene Umfeld, wie man es in Städten vorfindet, unerlässlich sei.

Kultur
Geyer verfolgt einen weiten Kulturbegriff, wenn er darunter die Gesamtheit aller Lebensformen, Wert- und Glaubensvorstellungen fasst. Kultur wird durch sozial-moralische Leitideen geprägt. Sie ist die Summe der durch Menschen geformten Lebensbedingungen und ist also eine Besonderheit der Gesamtheit der Menschen, die gemeinsam wohnen, sich versorgen, gemeinsam arbeiten und ihre Freizeit verbringen. Das heißt auch, dass Kultur historisch bedingt und von unterschiedlicher regionaler, lokaler und globaler Bedeutung ist. Die logische Konsequenz daraus ist die Verschiedenheit der Kulturen.

Stadtkultur
Im Zusammenhang mit der Kultur einer Stadt hält Geyer fest, dass sich die Kreativen nach Besonderheiten bzw. der Persönlichkeit einer Stadt ausrichten. Nicht zu vergessen ist, dass die Stadtkultur durch Menschen bestimmt wird. Die creative class bevorzugt urbane Orte, die durch Buntheit, Vielfältigkeit und Öffentlichkeit charakterisiert sind. An der Urbanität schätzen sie die Unterschiedlichkeit der Menschen und der individuellen Persönlichkeiten, in deren Spannungsfeld neue kreative Energien frei werden. Toleranz und Platz im öffentlichen Raum sind Grundvoraussetzungen für die Entwicklung kreativer Persönlichkeiten. Städte, die um die Ansiedlung kreativer Menschen bemüht sind, müssen demnach Unterschiedlichkeit herstellen, indem sie Vielseitigkeit zulassen und unterstützen.

Synthese
Geyer stellt seiner Synthese den Slogan „Stadtkultur statt Kulturstadt“ voran. Der inhaltlichen Bindung ist also große Aufmerksamkeit zu schenken. Diese kann in vielfältigen, kleinteiligen, kurzlebigen und immer wieder neu entstehenden Projekten und Angeboten realisiert werden, wobei die Pflege von Tradition nicht zu kurz kommen darf. Geyers Forderungen sind weiter: Freiräume und Aktionismus zulassen, subsidiäre Prinzipien bevorzugen und Bürokratie vermeiden. Nach seiner Überzeugung sind Stadt- und Kulturentwicklungspläne völlig zwecklos und sollten durch Wertepläne ersetzt werden. Sein Plädoyer ist: „Nicht verwalten, sondern gestalten!“ Geyer schließt mit der Frage: „Was suchen also Kreative?“ Die Antworten könnten vielfältiger nicht sein:
o anregende Menschen
o Offenheit und Toleranz
o inspirierende Stadtlandschaften (authentische Städte, Erbe und Tradition bewahren und nicht künstlich wieder herstellen)
o Selbstverwirklichung
o außergewöhnliches Wohnen (z. B. in Lofts)
o stimulierende Umfelder
o urbane Lebenskultur
o Interdisziplinarität
o Fazit: anregende Sozialstruktur

Jörg Augsburg, Leipzig (POP UP

Freie Szene und entsprechende Ausdifferenzierung am Beispiel der (Pop up

Die freie Szene wird durch ein gemeinsames kulturelles Interesse geklammert, dessen Basis ein umfangreiches und weit gefächertes Kulturangebot, eine ausdifferenzierte Szenelandschaft mit Möglichkeiten der Reibung untereinander, urbane Lebensqualitäten, intakte Infrastrukturen, Toleranz und Liberalität, objektive Entfaltungsmöglichkeiten, die subjektive Entfaltung zulassen, Interesse und Aufgeschlossenheit, ein persönliches und gewerblich-logistisches Netzwerk ist. Die gesellschaftliche Anerkennung spielt dabei eine untergeordnete Rolle, denn das Bewusstsein für die Wichtigkeit des eigenen Tuns ist ausschlaggebend. Die Einnahmesituation für Künstler und Macher deckt nicht den Lebensunterhalt, während Dienstleister gut von der Szene leben können. Daraus ergibt sich für de Künstler das Problem ihres Bestrebens, die eigene Kreativität auszuleben, während sie ums Überleben kämpfen müssen. Nicht selten wird daher das Geld in einem Brotjob verdient und der Kreativität im Freizeitbereich gefrönt. Bei der (Pop up arbeiten alle Macher freiwillig und sind damit unabhängig von der Messe, was mit der Reduzierung von Verantwortlichkeiten für den Einzelnen gegenüber der Messe und der Messe gegenüber dem Einzelnen einhergeht. Der Grad an Authentizität bleibt auf beiden Seiten sehr hoch. Die Probleme der Freiwilligkeit sind die damit verbundenen Schwierigkeiten der Professionalisierung. Die Macher der freien Szene befinden sich also zu einem großen Teil in einer prekären finanziellen Situation, die sowohl im privaten als auch im wirtschaftlichen Bereich wirkt. In der Freien Szene ist also der Grad an Selbstausbeutung sehr hoch (vgl. Generation Praktikum), da auch gesamtwirtschaftliche Phänomene wie Konkurrenzdruck und Lohndumping auf der kulturellen Tagesordnung stehen. Die Präsentationskompetenz und Imagepflege ist auch in diesem Bereich unerlässlich, wobei aber die Bedingungen nicht förderlich sind und die Wertschätzung der künstlerischen Arbeit von der Öffentlichkeit zu wünschen übrig lässt. Den Entscheidungsträgern fehlt laut Augsburg die Kompetenz, künstlerische Prozesse gleich welchen Genres adäquat beurteilen zu können.
An Augsburgs Gedanken zur Freien Szene schloss sich eine Kurzdiskussion zum Thema Kulturkompetenz an. Lange definierte Kulturkompetenz als Fähigkeit zur Übersetzungsarbeit. Die europäische Dimension bringt dabei die Argumente im Umgang mit Kultur hervor (vgl. Enquetekommission und Popförderung). Lang benennt den Mehrwert von Kultur und solchen Veranstaltungen wie der (Pop up mit Expertenbildung, Professionalisierung, soziale und kulturell-ästhetische Soft Skills und Erfahrungen und die intensive Hingabe für die Kulturpflege in einer Stadt. Die Kultur ist dabei die Vielfältigkeit der Szene einer Stadt, die auch neue Arbeitsformen nach sich zieht, indem sie Professionalisierung und Freiheit ermöglicht. Das Verhältnis von Leben und Arbeit muss im Kontext des lebenslangen Lernens neu verhandelt werden. Die Förderung des instabilen Netzwerks und des urbanen Lebensgefühls zur Beförderung von Szene und Kreativität ist auch für die Wirtschaft unerlässlich, da sich hier Produkte entwickeln und testen lassen können. Das Besondere und die Chance für Mitteldeutschland stellen die noch nicht ausreichend besetzten Strukturen dar.

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